Die Sortensammlung

Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts fanden die ersten bestandsbedrohten Obstsorten aus der Region ihren Platz bei den uralten Veteranen (Borsdorfer, Prinzen u. Augustäpfeln) auf dem Gelände des Pomariums. Ziel war es, die noch verhandenen reginalen Fruchtgehölze vor der zunehmenden Sortenerosion zu bewahren. So fanden innerhalb weniger Jahre etwa 300 verschiedene Kern- und Steinobstsorten aus Gärten und Knicks einen Platz im Angelner Pomarium und die Früchte zwecks Analyse auf den Tischen von Fachleuten/Pomologen bei überregionalen Fachtagungen. Durch das Studium alter Sortenlisten und durch Befragungen in der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze zu Dänemark kamen nach und nach zahlreiche historische Sorten mit z.T. interessanten Geschichten hinzu. Das Pomarium verfügt heute über eine große Sortenvielfalt – ein Schatz der genetischen Vielfalt und der regionalen Kulturgeschichte.

Namen sind Schall und Rauch

Mitten in Angeln, Deutschlands nordöstlichstem Zipfel in leicht hügeliger Grundmoränenlandschaft befindet sich das Pomarium in Winderatt. Von hier sollen die Angeln und die Sachsen im 4. bis 5. Jahrhundert n. Chr. nach England ausgewandert sein. Gut 700 verschiedene Apfelsorten, ca. 130 Birnensorten, dazu Steinobst und Mispeln gedeihen hier geschützt hinter Knicks auf einer ehemaligen Hauskoppel, auf der früher Kälber weideten.

Wie in einer Arche sammelt Meinolf Hammerschmidt hier alte Obstsorten. Angefangen hat alles mit einem Angelner Herrenapfel, von dem weit und breit nur ein ca. 150 Jahre alter Baum bekannt war. Inzwischen hat er viele junge Bäume dieses rotbackigen Sommerapfels „unter die Leute gebracht“. Viele andere, selten gewordene oder fast vergessene Apfelsorten wie der „Schaalbyer Rosen“, „Prinzenapfel“ oder „Borsdorfer“ haben hier wieder ihren Platz gefunden.

„Annelieses Wilder“ ist vermutlich ein Findling und irgendwo im Knick aus einem weggeworfenen Kernhaus gewachsen. Nach Personen oder Familien sind auch „Jessenapfel“, „Gretapfel“, „Iversenapfel“ oder „Johannsens Roter Herbstapfel“ benannt. Der letztgenannte, ein köstlich saftiger Tafelapfel, ließ sich unter diesem Namen nur schwer vermarkten und wurde von den klugen Vierländer Obstauern oder der anspruchsvollen Hamburger Kundschaft kurzum in „Ruhm von Kirchwerder“ umbenannt.
Viele Sorten kamen in früheren Jahrhunderten aus anderen Regionen in den Norden, wie man unschwer an ihren Namen erkennen kann. Da gibt es die vielen „Schönen“ aus Pontoise (Frankreich), aus Boskoop, (Holland), aus Bath (England), oder aus Herrnhut (Sachsen). Wenn die Aussprache der z.T. französischen Bezeichnung schwierig wurde, passte man sie der jeweiligen Region und ihrer Mundart an: Aus der leckeren kleinen Tafelbirne „Beurré Gris“(Graue Butterbirne) wurde „Grisbirne“, „Gute Graue“ und zärtlich „Grauchen“.

Sorten und ihre Geschichten

Süderhex. Eine kleine bis mittelgroße Frucht von einem Baum, der in der Region nur noch selten anzutreffen ist. Eine Bäuerin aus Nordangeln stand vor der Haustür und hatte eine Schüssel mit eher unscheinbaren Äpfel dabei und dazu ein Küchenrezept. Nein, das ist kein Tafelapfel, aber als Beilage zu Braten, zu Wild eine Köstlichkeit.

Gravensteiner-Grasten = Grauer Stein

Über Jahrhunderte war der Gravensteiner Apfel, benannt nach Ort und Schloss an der Nordküste der Flensburger Förde in Süd-Dänemark weltweit eine der bekanntesten und beliebtesten Sorten. Die duftende und wohlschmeckende Frucht reift im Pomarium Ende September und hält sich bis etwa Ende November.

Über seine Herkunft gibt es unterschiedliche Geschichten. Während sein Äußeres durchaus Ähnlichkeiten mit der Sorte „Geflammter Kardinal“ aufweist (in der Region verbreitet) und deshalb oft als sein Verwandter angesehen wurde, wissen wir heute, dass es zwischen den beiden Sorten kein verwandtschaftliches Verhältnis gibt. Seit langem ist bekannt, dass der Gravensteiner einen dreifachen Chromosomensatz hat, das heißt, er ist triploid und deshalb über seine Kerne nicht vermehrbar. Untersuchungen an der Uni Kopenhagen haben jüngst ergeben, dass der Gravensteiner genetisch von allen bisher untersuchten in Dänemark verbreiteten Apfelsorten abweicht – also ein genetisches Alleinstellungsmerkmal aufweist. Daraus lässt sich schließen, dass die Sorte weder aus Gravenstein noch aus Dänemark stammt.

Dazu passt die Geschichte, die sich um seine Herkunft rankt. Nämlich, dass die Sorte von einem Mitglied des dänischen Adels  um 1695 aus Italien mitgebracht wurde. Es ist von einem Kloster in Savoyen (heute Frankreich) die Rede. Ob in Form eines jungen Apfelbaums, eines Pfropfreises oder nur eines Apfelkerns ist nicht überliefert. Der Schlossgärtner Voetmann in Sonderburg übernahm das unbekannte pflanzliche Mitbringsel zur Vermehrung. Seinen Namen bekam der Apfel erst, als er nach Jahrzehnten im Schlosspark zu Gravenstein stand und dort Berühmtheit erlangte.

Nun liegt Gravenstein in einem Gebiet – Nordschleswig -, das in der Vergangenheit zu einem  Zankapfel wurde zwischen Dänemark und seinem südlichen Nachbar. Mal gehörte die Region zwischen Nord-und Ostsee zu dem skandinavischen Land, mal zu Deutschland. Und so auch die Gravensteiner Bäume im Schlossgarten von Gravenstein. Für manchen pomologisch interessierten Obstliebhaber schien es während der vergangenen nationalistischen  Perioden  (als Nordschleswig mal wieder zu Deutschland gehörte) unerträglich,  dass es sich bei der köstlichen Frucht nicht um eine „echt deutsche Apfelsorte“ handeln solle.

Jessenapfel

Er ist ein auffallend geformter und gefärbter Apfel, hochgebaut mit  blass gelber Schale und einer manchmal orangefarbenen Sonnenseite. Bei den überregionalen Obstausstellungen der Pomologen fand die Sorte besonderes Interesse.

Wo kommt der Apfel her? Diese Frage ist bei einigen der lokalen Sorten aus der Region leicht zu beantworten. Nicht so beim Jessenapfel.

Verschiedene Jessens in der Region, in deren Garten die Sorte stand, meldeten sich als die mögliche Herkunftsfamilie. Jedoch fehlte es immer an üblichen Daten und Personen bzw. Standorten.

Erst nach etwa 20 Jahre Suche meldete sich im Oktober 2015 ein Jessennachkomme aus Sterup-Dingholz,  und erzählte mir folgende Geschichte: Sein Großvater, Peter Jessen, geb. um 1885 aus Nübelmoor bei Steinbergkirche habe aus Apfelkernen 2 Apfelsorten hervorgebracht, den Jessenapfel und den Schniederapfel. Peter Jessen arbeitete zu Anfang des 20. Jhdts als Schneidermeister. Nach dem er bei Holzschredderarbeiten  einen Arm verlor und die Schneiderei somit für ihn unmöglich geworden war, schulte er um auf  Gärtner und Landwirt. Und beschäftigte sich auch mit der Produktion von Obstbäumen.

Neben dem besonderen Aussehen hat der Apfel im Gegensatz zu vielen Kaufhaussorten noch die bedeutende Eigenschaft, keine Apfelallergien auszulösen, wie sich erst jüngst herausstellte.

Der Iversenapfel wird zum Boyskov-Aeble
Die hochgebaute rote Frucht an einem Baum auf einer Weide direkt über der Steilküste der Flensburger Förde gehört mit zu den Sorten, die mir bei meinen ersten pomologischen Touren durch Angelns Obstgärten  Anfang der 1990er Jahre begegnete. Mit den Jahren erfuhr ich dann, dass der ‚Iversenapfel‘ auch unter anderen Namen in der Region verbreitet ist: ‚Prinzessinapfel‘, ‚Doppelter Gretapfel‘ und ‚Favorit‘.
Eine Herkunftsgeschichte zum ‚Iversenapfel‘  hörte ich dann auf einem Hof in Angeln.
Herr  Iversen aus der Nähe von Gelting brachte die Sorte mit aus Dänemark. Er hatte dort auf der Halbinsel Broager als Lehrer gearbeitet und war nach den Konflikten zwischen Deutschland und Dänemark im 19. Jhdt. auf die deutsche Südseite der Förde zurückgekehrt. Er war einige Jahre der Organist in der Geltinger Kirche
Der rote  Apfel kam bei der Bevölkerung gut an, wurde vermehrt und stand bald in vielen Apfelgärten.
Viele Jahre später, auf einem  Apfelfest im dänischen  Gravenstein,  stellte ich u.a. den Iversenapfel aus. Dort legte eine Besucherin einen mitgebrachten  Apfel auf den Tisch wies auf die  Ähnlichkeit mit dem Iversenapfel hin. Er war es, allerdings unter dem Namen „Boyskov-Apfel“. In dem kleinen Ort Boyskov bei Gravenstein – vermutlich der Ursprungsort der Sorte –  fanden wir dann viele junge und alte Bäume des Boyskovs. (Meinolf Hammerschmidt)
 

Konsumgewohnheiten

Innerhalb einer oder vielleicht zweier Generationen hat sich ein merklicher Wandel vollzogen von der häuslichen Selbstversorgung mit vielen verschiedenen Obstsorten hin zum ausschließlichen Konsum von wenigen aktuellen „Supermarktsorten“ (Gala, Braeburn, Jonagold, Pink Lady, Elstar) aus dem weltweiten z.T. industriellen Erwerbsobstbau

Dem globalisierten Menschen ist das Gefühl für Jahres(Lebens)rhythmen verloren gegangen: Er kann im Winter in warme Länder fliegen und Tulpen, Flieder und Grüne Bohnen auch zu Weihnachten kaufen. Da frische Äpfel das ganze Jahr verfügbar sind, stimmt es nicht mehr, dass „alles seine Zeit hat“. Die Freude über den ersten halbreifen vielleicht wurmstichigen Augustapfel „Schöner von Bath“ oder „Roter Astrachan“ oder auch „Weißer Klarapfel“ ist abhanden gekommen. Ein runzliger oder gar mehliger Apfel aus dem Keller wird als ebenso wertlos und überflüssig empfunden, wie das menschliche Altern. Dabei schmeckt ein „Finkenwerder Herbstprinz“ oder „Weißer Winterglockenapfel“ erst richtig, wenn er runzlig wird.

Die Verwendung von Äpfeln und Birnen in der Küche war früher differenziert und vielseitig: „Jakob Lebel“ und „Schöner von Boskoop“ waren wichtig zum Kuchen backen, für die Herstellung von Apfelmus, letzterer auch als Bratapfel, Der „Angelner Borsdorfer“ blieb auch nach dem Einkochen noch fest und weiß und war somit Kompott geeignet. „Süderhex“ wurde in Angeln zusammen mit der Leber gebraten und die Weihnachtsgans mit „Borsdorfer Renetten“ gefüllt.
Jede Region hatte ihren Weihnachtsapfel, z. B. den „Purpurroten Cousinot“ in Nordeutschland oder die „Rote Sternrenette“ in Westfalen, der „Rote Pison“ in Südschleswig heißt in Nordschleswig Püsson. „.(„Pison“ ist die verdeutschte Form von „Pigeon“, Taubenapfel). In Südjütland wurde daraus „Püsson“.) Blank poliert hingen sie leuchtend rot am Weihnachtsbaum oder lagen auf dem Teller und verströmten Weihnachtsapfelduft.

Die Herkunft des Apfels

Lange Zeit wurde vermutet, dass unser Hausapfel vom kleinen wilden Holzapfel (Malus sylvestris) abstammt. Dem ist nicht so. Der Wilde, mit einem eigenen genetischen Schlüssel, war schon vor der letzten Eiszeit in Europa. Der Hausapfel dagegen eroberte erst im Mittelalter Nordeuropa

Der Hausapfel „Malus x domestica“ stammt aus Zentralasien, als Abkömmling des dort in den Bergen des Altais und Tienschans wachsenden Wildapfels ‚Malus sieversii‘. Dieser trat vor mehr als 4000 Jahre seine Reise über die Seidenstraße nach Kleinasien und Europa an. Dabei wurde er nach und nach zu einer Kulturpflanze. In einem Teil des Pomariums steht eine Sammlung verschiedener asiatscher Wildapfelarten u.a. auch der ‚ ‚Malus sieversii‘ un verschiedenen Formen als Urahn des Hausapfels.

Überraschend ist die Vielfalt der Blattformen bei den unterschiedlichen Apfelarten. Manche Blätter ähneln eher dem Pflaumen- oder Weißdornlaub. Auch der europäische Wildapfel Malus sylvestris ist in verschiedenen Typen vorhanden. An den unterschiedlich großen und gefärbten Früchten ist der Apfel bei allen Arten gut zu erkennen

In Europa ist der Hausapfel vor allem in Klöstern und Herrschaftsgärten vermehrt, veredelt und verehrt worden. Seine kulturhistorische Bedeutung schlägt sich in allen Bereichen der Kunst, Philosophie und Mythologie nieder.

Meinolf Hammerschmidt hat bei diversen Reisen nach Zentralasien, verbliebene Standorte des ‚Malus sieversii‘ in den Tälern des Tienschan-Gebirges von Kirgisien und Kasachstan besucht und sehr unterschiedliche Formen des Urapfels vorgefunden und beschrieben. Er besuchte u.a. auch den Dendropark unweit von der Apfelstadt Almaty, in der sich eine umfangreiche „Sieversii-Baumsammlung“ von Professor Djangaliev befindet.